Demokratie in Zeiten des digitalen Wandels: Vorschläge für eine zukunftsfähige Entwicklungszusammenarbeit

Cathleen Berger
7 min readJan 12, 2017

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Dieser Beitrag wurde auf Einladung zum GIZ-Mitarbeitertag der Gruppe Governance und Menschenrechte am 12. Januar in Bonn als Denkanstoß vorgestellt und anschließend diskutiert.

Demokratie funktioniert nur dann, wenn sie von informierten, mündigen Bürgern getragen wird. 2016 war in diesem Sinne kein leichtes und schon gar kein euphorisches Jahr: Brexit, Trump, die Flüchtlingskrise und vor allem der wachsende, weltweite Populismus — der uns auch 2017 mit den anstehenden Wahlen in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland auf Trab halten wird.

Diese Trends, die unser Verhältnis zur Demokratie in Frage zu stellen oder zumindest zu erschüttern drohen, beeinflussen auch die Art und Weise, wie wir über Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten im digitalen Raum sprechen. Eines muss dabei klar sein, wir können und dürfen die Symptome nicht anstelle der Ursachen bekämpfen.

Wie ist das gemeint? Es ist leicht, sich in der Debatte um Fake News, Filter Bubbles, Hate Speech oder der Rekrutierung von Terroristen in sozialen Medien zu verlieren und das Internet zu verteufeln — insbesondere wenn diese Phänomene unseren Alltag aktuell zu dominieren scheinen. Was wir dabei aus den Augen verlieren, sind unsere gesellschaftlichen Strukturen und die Grundfeste der Demokratie, für die Technolgie weder ein Allheilmittel noch eine Dystopie ist.

Schauen wir uns ein paar Beispiele an.

In 2014 nutzten Bürger in Hong Kong die Macht und Reichweite von sozialen Medien, um die als „Umbrella Revolution“ bekannt gewordenen Proteste zur Abhaltung von freien Wahlen zu organisieren. Der Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) erlaubte es ihnen, ihren Unmut und politische Opposition nicht nur virtuell, sondern auch in der realen Welt — und zwar weit über die Grenzen von Hong Kong hinaus — zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig hinterließen ihre Aktionen digitale Fußspuren, die von der Regierung zur Verfolgung und Bestrafung genutzt wurden.

Im November 2015 erließ Frankreich anlässlich der internationalen Klimaverhandlungen (#COP21) im Zuge seiner fortwährenden Notstandsgesetzgebung ein Demonstrationsverbot. Dieser Eingriff in bürgerliche Freiheiten hätte kaum besser ad absurdum geführt werden können: tausende von Schuhen wurden von Bürgern auf zentralen Plätzen hinterlassen und massenhaft visuell in den sozialen Medien verbreitet. Der Protest fand seinen Ausdruck in der virtuellen Welt.

Während mehr und mehr Menschen und Regionen an das Internet angeschlossen werden, nahmen 2016 gleichzeitig Internetabschaltungen zu und insbesondere in afrikanischen Ländern, darunter Uganda, Gambia, Burundi und Gabon, wird der „kill switch“ häufig rund um nationale Wahlen eingesetzt. Weder ist so eine adequate Berichterstattung, noch eine effektive Wahlbeobachtung möglich. Kritik an dieser Praxis, die häufig ein Indikator für weitreichende Menschenrechtsverletzungen ist, gibt es mittlerweile auch seitens des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen.

Es handelt sich hier nur um eine kleine Auswahl von vielen Beispielen, die das Zusammenspiel von digitaler Welt und Demokratie illustrieren. Sie machen deutlich, dass IKT zunehmend zu einem Nährboden für Streitigkeiten zwischen staatlichen und zivilen Akteuren werden — und damit eine zentrale Frage für zukunftsfähige Governance-Modelle sind.

Die Technologien selbst sind dabei allerdings neutral — damit aber auch politisch ambivalent. Das „Digitale“ ist in diesem Zusammenhang häufig nur das Symptom, nicht jedoch die Ursache für Unzufriedenheit, Dissenz oder Unruhen.

Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und insbesondere das Internet haben individuelle Interaktionen, gesellschaftliche Diskurse und auch die Organisation staatlicher Strukturen verändert.

In seiner besten Form kann der digitale Wandel für mehr demokratische Teilhabe, Transparenz und Innovation sorgen. Jede Initiative, die zur weiteren Digitalisierung beiträgt, muss allerdings zwangsläufig sowohl Risiken als auch Kontext mitdenken. Das gilt für die Entwicklungszusammenarbeit besonders.

In internationalen und regionalen Foren, wie den Vereinten Nationen, den Prozessen um die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) oder der Fortführung des Weltinformationsgipfel (WSIS), der Afrikanischen Union oder der Global Connect Initiative und dem Weltwirtschaftsforum gehören Forderungen für ein “Recht auf Internetzugang” und “connecting the next billion” oder “bridging the digital divide” mittlerweile zum Standardrepertoire. Allein über die Mittel und Methoden, um diese Ziele sinnvoll strategisch, langfristig und nachhaltig umzusetzen, besteht keine Einigkeit.

Was politisch opportun erscheint, darf das eigentliche Ziel nicht aus den Augen verlieren: den mündigen Bürger in einer funktionierenden Demokratie. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass Digitalisierung weniger als separates Feld, denn als Element in allen Bereichen von Governance und Entwicklungszusammenarbeit mitgedacht werden muss.

Andernfalls werden Analysen, wie die von Nikhil Pahwa über die aktuellen Gesetzesinitiativen in Indien, zunehmend eine düstere Realität widerspiegeln: “We’ve gone from technology giving people choice to technology robbing people of choice: the way technology is being implemented by our government today is an attack on freedom and choice.”

Es geht darum, Dezentralisierung mitzudenken. In einer gesunden digitalen Welt ist Kontrolle niemals absolut — nicht für Staaten und schon gar nicht für Privatunternehmen. Statt sich von Krisen leiten zu lassen und primär in „mehr Sicherheit“ zu investieren — siehe Überwachung, Zensur, Algorithmic Profiling, zentraliserte Datenbanken, anlasslose Speicherung, Datenlokalisierung und vieles mehr, muss intelligente Demokratieförderung vorausschauend und langfristig denken.

Die Entwicklungszusammenarbeit hat das Potenzial insbesondere mithilfe von zwei Bereichen, ein belastbares Gegengewicht zu Populismus, Radikalisierung und Desinformation zu schaffen. Die Schlagworte lauten: Digital Inclusion und Digital Literacy.

Grob geht es bei diesen Konzepten um Teilhabe und Bildung im digitalen Zeitalter.

Hier kann die Entwicklungszusammenarbeit nicht nur positiv mitgestalten, sondern einen entscheidenden Unterschied machen. Für eine effektive Teilhabe am digitalen Leben bedarf es nachhaltiger und erschwinglicher Infrastruktur. Dabei ist zu beachten, dass der zur Verfügung gestellte Internetzugang weder preislich, noch inhaltlich, noch kulturell diskriminierend ist — dies setzt auch adäquate rechtliche Rahmenbedingen voraus.

Viel diskutiert wurden in den letzten Jahren beispielsweise sogenannte Zero-Rating-Angebote, bei denen Privatunternehmen in Kooperation mit Internet Service Providern Nutzern Zugang zu ihren eigenen Angeboten oder einer kleinen Auswahl an Apps kostenfrei zur Verfügung stellen. Während einige Beobachter solche Vorstöße als ersten Schritt begrüßen, sind die langfristigen Folgen mitunter schwerwiegend: Monopolisierung, Marktverzerrung und nicht zuletzt auch eine Einschränkung von Meinungsfreiheit und anderen Rechten. Statt solche Initiativen in rein privatwirtschaftlicher Hand zu lassen, sollte über sinnvolle Public Private Partnerships nachgedacht werden, die freien Zugang zur ganzen Vielfalt ermöglichen. Dies kann zum Beispiel in Form von Equal-Rating-Modellen geschehen, die weder Inhalte, noch Services, noch deren Qualität vorgeben, oder über staatliche Subventionen für einen freien Internetzugang in öffentlichen Gebäuden, wie Bibliotheken, Schulen, Universitäten oder Museen.

Allerdings reicht es nicht, lediglich mehr Menschen „online“ zu bringen.

Lokale Inhalte und regional angepasste Services sind notwendig. Gleichermaßen bedarf es entsprechender Kompetenzen, kultureller Akzeptanz und eines Verständnisses für den Nutzen des Internets, ohne welche die Infrastruktur allein kaum einen sozio-politischen und ökonomischen Mehrwert generieren wird.

Mit anderen Worten: Sinnvolle Teilhabe ist eine komplexe Herausforderung. Investitionen in nachhaltige Infrastruktur müssen einhergehen mit durchdachten, nicht-diskriminierenden Finanzierungsmodellen und sie müssen flankiert werden von rechtlichen Rahmenbedingungen, die weder den Wettbewerb beschränken noch das Schutzniveau der Bürger senken.

Aber auch vorhandende technische und rechtliche Gegebenheiten können ihr Potenzial erst entfalten, wenn Menschen in die Lage versetzt werden, die Angebote aktiv zu nutzen.

Denn machen wir uns nichts vor, IKT kann so komplex sein, dass es einschüchternd ist, sich auch nur damit auseinanderzusetzen. Programmiersprachen basieren in der Regel auf dem lateinischen Alphabet und setzen meist Grundkenntnisse des Englischen voraus. Das heißt, obwohl der Zugang zu Technik heute grundsätzlich leichter und viel intuitiver ist als noch vor 20 Jahren, kommen nur wenige außerhalb des kleinen Kreises der „technischen Gemeinschaft“ über den Punkt hinaus, an dem sie nicht nur konsumieren oder auf standardisierte Weise kommunizieren.

Das bedeutet auch, dass die Diskussion über ethische und politische Implikationen für Governance-Prozesse häufig in Isolation geführt wird — entweder in „tech speak“ oder ohne ausreichenden technischen Hintergrund, um Konsequenzen und Gefahren vernünftig zu beurteilen.

Investitionen in digitale Bildung (Digital Literacy) erscheinen aus Sicht von Governance-Prozessen vielleicht sekundär, halten aber den Schlüssel für sinnvolle Beteiligung, informierten Austausch und stabile Politikgestaltungsprozesse bereit. In dem Sinne sind einige Maßnahmen so naheliegend wie notwendig für eine strategische Entwicklungszusammenarbeit. Dazu zählen die Ausschreibung von Stipendien, die Finanzerung von Workshops oder Universitätskursen, Partnerschaften mit anderen Förderinitiativen oder aber die Übersetzung und Verbreitung von bereits existierenden Materialien und Initiativen, die zur Ausbildung von digitalen Kompetenzen beitragen.

Weitere Handlungsfelder, die die Entwicklungszusammenarbeit positiv mitgestalten kann, die aber auch komplexe Herausforderungen mit sich bringen sind:

> Open Data und Open Government. Dieser Bereich birgt die Chance für mehr Transparenz, Information und Kontrolle seitens der Bürger, er darf aber nicht zum Selbstzweck vorangetrieben werden. Zum einen muss eine Öffnung von Daten mit Mindeststandards für Datenschutz, Anonymisierung und Lesbarkeitt einhergehen und zum anderen darf die Einbeziehung von Bürgern — der Dialog — nicht damit enden, dass alles „online“ steht. Das heißt, Governance-Intitiativen, die auf Digitalisierung setzen, dürfen das Element des Erklärens bzw. der Beteiligung an Politikgetaltungsprozessen nicht durch „Daten“ ersetzen.

> Datenschutz und Datensparsamkeit. Während in der EU die Datenschutz-Grundverordnung gilt, fehlen in vielen Ländern dieser Welt Gesetze zum Datenschutz noch völlig. Bemühungen zur Rechtsberatung sollten auch Prinzipien der Datensparsamkeit sowie enge Grenzen für die Datenerfassung und –nutzung vorsehen. Zum Beispiel sollten Daten über Migrationsströme zur Vorhersage von Folgen des Klimawandels oder Überwachungsdaten zum Verkehrsmanagement in Städten (Smart Cities) nicht nur anonymisiert, sondern auch streng zweckgebunden sein.

> Cybersicherheit. IKT und der weitere virtuelle Raum sind immer nur so sicher, wie das schwächste Glied. Cybersicherheit bei Digitalisierungsprojekten von vornherein mitzudenken und nicht erst nachzuimplementieren, ist daher essentiell. Wichtig ist jedoch, dass es in diesem Zusammenhang nicht nur um den Schutz von Systemen, sondern vor allem um den Schutz von Individuen gehen muss. Nur wenn Individuen sich sicher, frei und anonym im Internet bewegen können, lassen sich Meinungsfreiheit und Privatsphäre als Fundamente einer funktionierenden Demokratie gewährleisten.

Zusammengefasst, was heißt das für eine zukunftsfähige Entwicklungszusammenarbeit?

Do’s:

  • Mitdenken von Digitalisierung in allen Governance-Bereichen
  • Investieren in nachhaltige Infrastrukturprojekte, u.a. in Form von Public Private Partnerships
  • Fördern von staatlich-subventioniertem Zugang, bspw. in Bibliotheken, Museen, Schulen oder anderen öffentlichen Gebäuden
  • Fördern von Equal-Rating-Modellen
  • Fördern von lokalen Inhalten und Sprachvielfalt
  • Investieren in Digital Literacy, bspw. über Stipendien, externe Projektförderung oder Partnerschaften
  • Rechtsberatung zu Datenschutz und Datensparsamkeit
  • Fördern von Dialogformaten zur Stärkung von open government-Prozessen

Don’t’s:

  • Open Data/Digitalisierung als Selbstzweck
  • Fördern von diskriminierenden Finanzierungsmodellen (Zero-Rating)
  • Fördern von zentraliserter Datenerfassung
  • Bereitstellen von Technologien für Sicherheitsapparate ohne ausreichende rechtliche und technische Schutzmaßnahmen

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Cathleen Berger

Strategy expert, focusing on the intersection of technology, human rights, global governance, and sustainability